Anlässlich des ersten Jahrestags des beispiellosen Vorgehens gegen das belarusische Menschenrechtszentrum Viasna starten 23 internationale und belarussische Menschenrechtsorganisationen, darunter auch Libereco, eine Kampagne, um die Freilassung von sieben inhaftierten Viasna-Mitgliedern zu fordern und auf die Notlage von Hunderten weiteren Menschen aufmerksam zu machen, die allein für die Ausübung ihres Rechts auf friedliche Versammlungs- und Meinungsfreiheit verhaftet und verfolgt wurden und werden. 

„Heute ist es ein Jahr her, dass die belarusischen Behörden mit ihrer schamlosen Hexenjagd gegen Viasna begannen, indem sie Marfa Rabkova, die Freiwilligen-Koordinatorin von Viasna, willkürlich festnahmen. In den folgenden Monaten wurden sechs weitere Mitgliedern dieser Menschenrechtsorganisation hinter Gitter gebracht und wegen unbegründeter Straftaten angeklagt, nur weil sie legitime Menschenrechtsarbeit geleistet haben“, erklären die Organisationen, darunter auch Libereco. 

Im Folgenden finden Sie eine Liste der Verhafteten und der gegen sie erhobenen Anklagen gemäß des belarusischen Strafgesetzbuches::

    • Marfa Rabkova, die Koordinatorin des Freiwilligen-Netzwerks von Viasna, wurde am 17. September 2020 festgenommen und befindet sich seitdem in Untersuchungshaft. Ihr wird vorgeworfen „Menschen für die Teilnahme an Massenunruhen auszubilden und auf andere Weise vorzubereiten“, „Aufstachelung zu rassischem, nationalem, religiösem oder sonstigem sozialen Hass oder Zwietracht durch eine Gruppe“ und „Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung“. Ihr drohen bis zu zwölf Jahre Haft.
    • Andrei Chepyuk, ein Viasna-Freiwilliger in Minsk, wurde am 2. Oktober 2020 festgenommen und ist angeklagt für die „Teilnahme an Massenunruhen“ und „Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung.“ Ihm drohen bis zu sieben Jahre Gefängnis.
    • Leanid Sudalenka, der Leiter des Viasna-Büros in Homel, wurde am 18. Januar 2021 auf dem Weg ins Büro festgenommen. Sudalenka hatte dutzenden Menschen der Region Homel Rechtsbeistand geleistet, die wegen ihrer Teilnahme an Protesten nach den Wahlen festgenommen und angeklagt wurden.
    • Tatsyana Lasitsa, eine Aktivistin, die Viasna ehrenamtlich in Homel unterstützt hat, wurde am 21. Januar 2021 festgenommen und wegen „Organisation oder Teilnahme an Gruppenaktionen, die die öffentliche Ordnung schwer verletzt haben“ angeklagt. Ihr droht eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren.
    • Eine weitere Viasna-Freiwillige des Homeler Büros, Maryia Tarasenka, wurde am 18. Januar 2021 verhaftet. Sie wurde drei Tage lang festgehalten, bevor sie am 21. Januar 2021 freigelassen wurde, nachdem sie sich bereit erklärt hatte, eine Verpflichtung zu unterzeichnen, das Land nicht zu verlassen.
    • Alle drei Viasna-Mitglieder des Homel-Büros, Leanid Sudalenka, Tatsyana Lasitsa sowie Maryia Tarasenka, sind wegen der „Organisation, Finanzierung, Ausbildung und Vorbereitung von Handlungen, die die öffentliche Ordnung grob verletzen, und Finanzierung solcher Handlungen“ gemäß Artikel 342, Teil 1 und 2 des belarusischen Strafgesetzbuchs angeklagt. Im Falle einer Verurteilung droht ihnen eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren.

Razzien bei mehr als einem Dutzend belarusischer NGOs

Am 16. Februar 2021 durchsuchten belarussische Strafverfolgungsbeamte Viasna-Büros in Minsk, Homel, Mahiljou, Wizebsk, Brest und anderen Städten sowie die Wohnungen von Viasna-Mitarbeiter*innen. Im März 2021 eröffnete das belarusische Untersuchungskomitee, eine für strafrechtliche Ermittlungen zuständige Behörde, ein Strafverfahren wegen der Aktivitäten von Viasna gemäß Artikel 342 des belarusischen Strafgesetzbuchs („Organisation oder Teilnahme an Gruppenaktionen, die die öffentliche Ordnung schwer verletzen“).

Schließlich wurden am 14. Juli 2021 nach Razzien belarusischer Strafverfolgungsbeamter bei mehr als einem Dutzend wichtiger belarussischer Zivilgesellschafts- und Menschenrechtsorganisationen, darunter auch Viasna, der Viasna-Vorsitzende Ales Bialiatski, Valiantsin Stefanovich, Mitglied des Viasna-Vorstands und Vizepräsident der Internationalen Föderation für Menschenrechte, und Uladzimir Labkovich, ein Anwalt von Viasna, festgenommen. Sie alle wurden gemäß Artikel 342 und Artikel 243 Absatz 2 („Steuerhinterziehung“) angeklagt, der eine Höchststrafe von sieben Jahren vorsieht.

Systematische Unterdrückung der Zivilgesellschaft

Die Repressalien gegen Viasna sind nur ein Teil eines umfassenderen Vorgehens gegen die Zivilgesellschaft in Belarus. Allein am 22. Juli 2021 hat das Justizministerium die Schließung von 53 Organisationen angeordnet. Stand jetzt wurden mehr als 200 zivilgesellschaftliche Organisationen geschlossen oder stehen unmittelbar vor ihrer Schließung.

„Die Regierung von Alexander Lukaschenko geht offen gegen friedliche Demonstrant*innen vor und stellt diejenigen, die sie verteidigen, im Geheimen vor Gericht. Ihre Schein-‚Prozesse‘ werden unter Verschluss gehalten, um die absurden Anklagen zu verbergen, öffentliche Zeug*innen zu vermeiden und sich selbst eine große Blamage zu ersparen. Die Behörden setzen Anwält*innen, die friedliche Demonstrant*innen vertreten, unter Druck, nicht zu sprechen und die Informationen sind spärlich. Dennoch können wir sicher sein, dass diese sieben Menschenrechtsverteidiger*innen unschuldig sind. Wir fordern ihre sofortige und bedingungslose Freilassung“, erklären die Organisationen.

Es ist zu befürchten, dass keine*r der Viasna-Mitarbeiter*innen oder -Freiwilligen ein faires Verfahren erhalten wird. Uladzimir Labkovich zum Beispiel hatte nach seiner Festnahme mehrere Tage lang keinen Zugang zu seinem Anwalt. Auch die Haftbedingungen sind besorgniserregend, da die meisten Menschenrechtsverteidiger*innen weder telefonieren noch von Familienangehörigen besucht werden dürfen und ihr Briefverkehr oft blockiert wird.

#FreeViasna

Die gemeinsame Kampagne #FreeViasna, die die sofortige Freilassung der sieben Viasna-Mitarbeiter*innen fordert, appelliert an die belarussischen Behörden…

    • … ihren internationalen Menschenrechtsverpflichtungen als Vertragspartei des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte in vollem Umfang nachzukommen und das Recht auf Vereinigungsfreiheit, friedliche Versammlung und freie Meinungsäußerung für alle Menschen in Belarus zu respektieren.
    • … die Arbeit von Menschenrechtsverteidiger*innen in vollem Umfang zu respektieren und zu schützen und sicherzustellen, dass jeder das Recht hat, sich über die Politik und die Handlungen einzelner Beamtinnen und Beamter und der Regierung zu beschweren und professionellen Rechtsbeistand oder andere einschlägige Beratung und Unterstützung bei der Verteidigung der Menschenrechte und Grundfreiheiten anzubieten und zu leisten.
    • Lassen Sie im Einklang mit diesen Verpflichtungen Marfa Rabkova, Andrei Chepyuk, Tatsyana Lasitsa, Leanid Sudalenka, Ales Bialatski, Valiantsin Stefanovich und Uladzimir Labkovich unverzüglich und bedingungslos frei, lassen Sie die Anklagen gegen Maryia Tarasenka und andere Viasna-Mitarbeiter*innen und -Freiwillige fallen und gewährleisten Sie ihr Recht auf Widerspruch gegen unrechtmäßige Verfolgung.

Unterzeichnet von:

Article 19, Amnesty International, Belarusian Helsinki Committee, Barys Zvozskau Belarusian Human Rights House, Civil Rights Defenders, European Platform for Democratic Elections, FIDH, Freedom House, Front Line Defenders, Helsinki Foundation for Human Rights, Human Rights House Foundation, Human Rights Watch, International Partnership for Human Rights, Libereco – Partnership for Human Rights, Netherlands Helsinki Committee, Norwegian Helsinki Committee, OMCT, Östgruppen – Swedish Initiative for Democracy and Human Rights, People In Need, Protection International, Reporters Without Borders, Right Livelihood und Viasna

Hintergrund

Seit ihrer Gründung 1996 ist Viasna ist eine der führenden Menschenrechtsgruppen in Belarus und hat nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen im August 2020 Menschenrechtsverletzungen aktiv beobachtet und dokumentiert. Viasna war während ihres gesamten Bestehens Schikanen und Einmischungen seitens der belarussischen Behörden ausgesetzt. Im Jahr 2003 ist der Organisation von den Behörden die Registrierung entzogen worden. Trotz zahlreicher Versuche, sich erneut registrieren zu lassen, war Viasna gezwungen, ihre Arbeit ohne offizielle Registrierung in Belarus fortzusetzen. Im Jahr 2011 wurde der Vorsitzende Ales Bialiatski wegen Steuerhinterziehung zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Von denen verbüßte er fast drei Jahre, bevor er 2014 im Rahmen einer Amnestie freigelassen wurde.